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Nur für wenige Szenen von Craig Gillespies Film "I, Tonya" taucht Nancy Kerrigan auf, jene einst gefeierte US-Eiskunstläuferin aus einfachen Verhältnissen, die es bis an die Spitze ihrer Disziplin schaffte.
Und die Glück im Unglück hatte, dass ein feiger Anschlag sie nicht die Karriere kostete. Ein Unbekannter attackierte sie im Januar 1994 mit einem Knüppel, verfehlte das anvisierte Knie aber knapp. So konnte Kerrigan sechs Wochen später bei den Olympischen Spielen in Lillehammer antreten und eine Silbermedaille gewinnen. Das ist der Stoff, aus dem Träume gemacht sind und den Hollywood so liebt.
Die australische Schauspielerin Margot Robbie, die das Projekt einst ins Rollen brachte, spielt jedoch nicht das "All-American Girl", sondern eine Figur, die als Filmheldin nicht unbedingt prädestiniert schien: Tonya Harding, Kerrigans Konkurrentin, deren Ex-Mann Jeff Drahtzieher der Knüppelattacke war und nach seiner Verhaftung auch Harding schwer belastete.
Harding als "victim of circ*mstances"
Gillespies Film ist zuerst einmal der Versuch einer Rehabilitierung, will aus der vermeintlichen Täterin ein Opfer der Umstände machen, versucht in Ansätzen aber auch nachzuvollziehen, warum sich damals eine ganze Öffentlichkeit derart auf Harding einschoss.
So blickt "I, Tonya" in klassisch chronologischer Biopic-Manier auf das prekäre soziale Umfeld der Läuferin, erzählt von der stetigen häuslichen Gewalt, erst durch die Mutter, dann durch den Ehemann und schließlich durch die Medienhetze. "Nancy wird ein einziges Mal geschlagen, und die ganze Welt dreht durch", sagt Tonya einmal im Film, zum Publikum gewandt. "Ich wurde die ganze Zeit geschlagen."
Diese direkten Ansprachen in die Kamera gehören zum Clou von "I, Tonya". Gillespie und Drehbuchautor Steven Rogers haben aus der Not eine Tugend gemacht und die ungeklärten Umstände des Falls zum Prinzip des Films erhoben. So beginnt "I, Tonya" mit dem Hinweis auf "höchst widersprüchliche" Interviews, die ihm zugrunde liegen. Interviews mit Tonya, ihrer Mutter, ihrem Ex-Mann und anderen, die Gillespie im Stile einer "Mockumentary" mit seinen Darstellern reinszeniert hat und die immer wieder die eigentliche Handlung des Films unterbrechen.
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Fotostrecke: Sie nannten sie "Eishexe"
Foto: DCM
Dieses smarte Spiel mit den Perspektiven ist nicht nur etwas schlicht geraten, es holt den Film auch immer wieder von jener gesellschaftspolitischen Ebene herunter, auf der er gern ankommen möchte.
Reflexion über Klassenverhältnisse
In ihrer Dankrede für ihren Golden Globe mahnte Oscar-Gewinnerin Allison Janney, die mit großem Vergnügen Tonyas gewalttätige und zynische Mutter LaVona spielt, dass es dem Film um mehr ginge als nur um die Rehabilitierung Tonyas: nämlich um eine Reflexion über Klassenverhältnisse in den USA.
Tatsächlich bietet sich der Eiskunstlauf der Damen als Metapher für amerikanische Mythen und ihre Schattenseiten förmlich an. Zwei Noten vergibt die Jury in diesem Sport für jede Kandidatin, eine für die technische Ausführung und eine für Präsentation und künstlerischen Ausdruck.
Das Ideal der Chancengleichheit, Grundlage für jeden sportlichen Wettkampf wie für den sogenannten amerikanischen Traum, wird über die B-Note also unmittelbar wieder hintertrieben. Anders als Technik haben Präsentation und Ausdruck schließlich weniger mit messbaren Dingen wie den Umdrehungen innerhalb eines Sprungs zu tun, dafür umso mehr mit normativen Vorstellungen von (weißer) Weiblichkeit, Vorstellungen also, die nicht jede Läuferin ohne Weiteres erfüllen kann.
So zehrte Tonya Harding zwar davon, dass ihr als erster Frau in einem Wettkampf ein dreifacher Axel gelang - ein Ereignis, das der Film in Superzeitlupe zelebriert. Und doch hatte sie stets mit der Skepsis von Jurys und Medien zu kämpfen, in deren Augen sie weniger dem klassischen Bild weiblicher Anmut als dem klassischen Bild des "White Trash" entsprach.
"I, Tonya"
USA 2017
Regie: Craig Gillespie
Drehbuch: Steven Rogers
Darsteller: Margot Robbie, Sebastian Stan, Allison Janney, Caitlin Carver
Produktion: Clubhouse Pictures (II), LuckyChap Entertainment
Verleih: DCM Film Distribution
FSK: ab 12 Jahren
Länge: 120 Minuten
Start: 22. März 2018
Das Interesse des Films an derlei Dynamiken wird allerdings durchkreuzt von seinem offensiven Spiel mit widersprüchlichen Fakten, das Gillespie vor allem humoristisch ausbeutet - etwa wenn Tonya ihren Mann mit Gewehr im Anschlag aus dem Haus jagt, nur um dann direkt in die Kamera zu behaupten, diese Episode habe nie stattgefunden.
Schlichte Zeichnung des Milieus
Letztlich lässt dieser "postfaktische" Ansatz auch die häusliche Gewalt, die Gillespie eigentlich von der Peripherie der Tonya-Geschichte ins Zentrum holen will, zwischen sich widersprechenden Perspektiven schlichtweg verschwinden.
Wenn Tonya und Jeff einmal per Splitscreen nebeneinander im Bild auftauchen und sich an die Gewalt in ihrer Ehe erinnern, dann wirken sie wie zwei Kinder, die sich gegenseitig vorwerfen, mit dem Hauen angefangen zu haben.
Überhaupt scheint der Preis für die Integration einer als "White Trash" Gescholtenen in den Biopic-Kanon eine umso schlichtere Zeichnung ihres Milieus zu sein. Kann Janning aus Tonyas Mutter zumindest noch eine äußerst lebendige Karikatur machen, wird bei den anderen Nebenfiguren kein Redneck-Klischee ausgelassen. Das mag dem gar nicht mal abwegigen Gedanken geschuldet sein, die Geschichte um Tonya am besten als medienkritische Farce erzählen zu können.
Es lässt aber auch befürchten, dass "I, Tonya" bei allem augenzwinkernden Umgang mit den Fakten blind dafür ist, dass er im Bild selbst immer auch eigene Wahrheiten herstellt - und tradierte Vorstellungen von den sogenannten Unterschichten vielleicht doch eher verfestigt als angreift.