In der Jetset-Action mit Ryan Gosling und Chris Evans ist eigentlich eine Frau der Star: Ana de Armas. Leider besteht ihre Aufgabe darin, dem Mann den Rücken freizuhalten.
Eine Rezension von Kathrin Hollmer
Vergessen wir einmal kurz Ryan Gosling und Chris Evans. Dass nur die beiden auf dem Plakat von The Gray Manposen, ist eine Frechheit. In dem Film, der in einzelnen Kinos und auf Netflix läuft, ist eine andere Figur viel interessanter. Man spoilert nichtzu sehr, wenn man verrät, dass sie die einzige interessante Figur in diesemZweistundenballerfilm ist: Agentin Dani Miranda, gespielt von Ana de Armas.
In James Bond 007: Keine Zeit zusterben hatte de Armas einen kurzen Auftritt als nervöses Bond-Girl, das esdann aber 007 ebenbürtig mit einer Partygesellschaft aus lauter Bösewichtenaufnimmt. In The Gray Man ist sie erneut Wingwoman. Wieder hält sie dem Titelheldenden Rücken frei, rettet ihm sogar mehrfach das Leben.
Nun also doch zu Ryan Gosling: Derspielt Court Gentry, der im Gefängnis von der CIA angeheuert wurde, die Häftlingefür die geheime Auftragskillertruppe "Sierra" rekrutiert, auch genannt "TheGray Men". Als dieser Gentry – alias "Sierra Six", kurz Six ("007 war schonvergeben") – in der Silvesternacht in Bangkok einen Mann tötet und Beweise findet,die seinen Vorgesetzten Denny Carmichael (Regé-Jean Page aus Bridgerton)schwer belasten, ist er plötzlich das Anschlagsziel. Carmichael hetzt denehemaligen CIA-Agenten Lloyd Hansen (Chris Evans) auf ihn, der wegen seinerFoltereskapaden entlassen wurde und nun als Freelance-Folterknecht imPrivatjet um die Welt fliegt. Evans, der unter anderem Captain America inmehreren Marvel-Verfilmungen spielte, gibt im Presseheft zu Protokoll, er habe "nichtoft die Gelegenheit, diese Art von Rollen zu spielen". Seine Rolle alsschnurrbärtiger Psychopath, der es genießt, Menschen die Fingernägel abzuziehen,kostet Evans in der Tat aus, obwohl seine Figur so eindimensional ist wie einschlechter Comicschurke. Eindimensional sind überhaupt alle Figuren in demFilm, die guten wie die bösen. Egal ob Six' pensionierter Chef Donald Fitzroy(Billy Bob Thornton) oder dessen Nichte Claire (Julia Butters aus Once Upon aTime in Hollywood), sie alle sind nur dazu da, die nächste Actionszeneeinzuleiten.
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The Gray Man hätte eine Ermächtigungsgeschichtewerden können. Mikrorückblenden reißen Gentrys schwere Kindheit mit einem gewalttätigenVater an. Stattdessen geht es, wieder einmal, um eine Verschwörung in derAgency und einen einsamen Wolf, der sich gegen das System stellt. Man kennt das, Mission: Impossible und Die Bourne Identität treffen auf die Auftragskillersaga John Wick. Im Soundtrack erkennt man immer wieder sogar das James Bond- und das Mission:Impossible-Thema.
Der Film tut gar nicht so, als wäredie Handlung wichtig, so ungeniert, dass es schon wieder bemerkenswert ist. Vieldavon hätte auch nicht hineingepasst neben perfekt choreografierten Schießereien,Detonationen von Raketen- und Granatwerfern, Stürzen aus brennenden Flugzeugen,Nahkämpfen und Verfolgungsjagden durch diverse Metropolen. Bald kann man dieverwüsteten Gebäude, ach was, Stadtviertel nicht mehr zählen, die Leichen, diesich durch den Film ziehen, sowieso nicht. Ryan Gosling schleicht mit seinerRyan-Gosling-typischen Wurschtigkeit von Schauplatz zu Schauplatz, meistensentweder mit Zahnstocher oder Kaugummi im Mund. Sein Nichtausdruck, wenn er inHandschellen an eine Bank gefesselt auf Attentäter schießt, aus einerbrennenden Straßenbahn auf Mirandas Motorhaube knallt oder beinahe verblutet,wirkt streckenweise wie Satire, ansonsten gibt es leider keine Anzeichen dafür.
Die Brüder Anthony und Joe Russo(Captain America: The Winter Soldier,Civil WarundAvengers: Endgame)haben nicht nur Regie geführt, sondern den Film auch produziert, Joe Russoschrieb am Drehbuch mit. Wie ihre Marvel-Verfilmungen ist auch The Gray Man aufEffekt getrimmt und comic-artig überinszeniert. Explosionen,Hochgeschwindigkeitsdrohnenflüge und Feuerwerke füllen das Bild, was auf dergroßen Leinwand besonders gut kommt, ebenso pinkfarbener Rauch aus Warnfackeln(gezündet nach einer knappen halben Stunde durch Six während eines Nahkampfs ineinem Flugzeug, man fragt da schon nicht mehr nach dem Sinn). Wenigstens siehtes gut aus, könnte man sagen, doch nach zwei Stunden Überkompensation ist danur noch Reizüberflutung.
Mit 200 Millionen Dollar löst TheGray Man den bisherigen Rekord als teuerste Netflix-Eigenproduktion, RedNotice ab, ein ähnlich uninspirierter, aber star-besetzter Ballerfilm, bei demman immerhin ein bisschen lachen konnte.
Der angeschlagene Streaming-DienstNetflix, bei dem zuletzt die Abonnentenzahlen eingebrochen sind, will aus TheGray Man ein Netflix-Franchise machen, mit verschiedenen Filmen und Serien. DieRussos sind eine naheliegende Wahl. Zuletzt haben sie einen Blockbuster nachdem anderen inszeniert. 2019 erzielten sie mit Avengers: Endgame das bisdamals höchste Einspielergebnis in der Kinogeschichte. Stoff für ein GrayMan-Franchise gibt es genug. Der Film basiert auf der gleichnamigen Romanreihevon Mark Greaney, in der bereits elf Romane erschienen sind.
Für kommende Projekte aus dem GrayMan-Universum gehört unbedingt Agentin Dani Miranda in den Mittelpunkt. Siehat Karriere gemacht in einem Job, für den sie brennt, trotzdem sagt sie ihrenVorgesetzten die Meinung, auch wenn das für sie unbequem ist. Sie tut nicht,was man ihr befiehlt, sondern, was sie für richtig hält. Als ihr Vorgesetztersie unter Druck setzt und am Arm tätschelt, sagt sie den universelleinsetzbaren Satz: "Verschwinden Sie sofort aus meiner Intimsphäre." Sie suchtsich die dickste Kanone aus und bewahrt Six mehrmals vor dem Tod, bis er daskommentiert mit: "Mein Ego ist etwas angeknackst. Ich hätte gern irgendwann maldie Gelegenheit, dich zu retten."
Miranda rettet sich selbst, sie kämpftebenbürtig, darf das aber nur kurz zeigen. Lieber lässt man sie mit dem Autoneben Six herfahren, um ihn nach seinen Kampfszenen aufzusammeln, im Showdownschickt er sie weg, obwohl sie Hansen töten könnte. Immerhin bekommt auch Sixnicht die Gelegenheit, was vielleicht die größte Überraschung in dem Film ist.Aber auch für den Mann bleibt noch genug zu retten übrig.
"The Grey Man" läuft in einzelnen Kinos und ab heute auf Netflix.