Eine Kolumne von Matthias Kalle
Selbst über True Crime wird die Menschheit irgendwann sagen: Nicht alles war schlecht. Oberstes Beweisstück: der Gefängnisthriller "Black Bird".
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Manche Menschen gucken Fernsehen, weil dort die Bundesliga läuft, weil man Heizdecken bestellen und sich nachts mit Hitler-Dokus die Träume verderben kann. Nicht Matthias Kalle. Unser Kolumnist guckt Fernsehen, um die Welt zu verstehen – und verrät ab sofort in seiner Kolumne "Kalle guckt", was man wirklich gesehen haben muss. Dieser Text ist Teil vonZEIT am Wochenende, Ausgabe 43/2022.
Ärger ist mein zweiter Name, und wenn Siemir das nicht glauben, dann kommt jetzt der Beweis: Sabine Rückert liegtfalsch. Natürlich nicht immer. Sie ist eine tolle Kollegin, Mitglied der ZEIT-Chefredaktion und Host des Podcats ZEIT Verbrechen. Wir kennenund schätzen und duzen uns seit Jahren, aber wenn Sabine in einer aktuellen Werbekampagneder ZEIT behauptet, dass das Leben die besten Krimis schreibe, dann ist das totaler Unsinn. Die besten Krimis schreiben schließlich DennisLehane, Michael Robotham und Noah Hawley.
Ich bin ein Mann der Fiktion, deshalb kannich mit dem Genre der True Crime nichts anfangen. Das Leben istals Autor in seinen Möglichkeiten limitiert, es hat keine Ahnung vonDramaturgie oder Erzählperspektive, ist recht einfallslos, was Plot-Twistsbetrifft und fühlt sich eher der Wirklichkeit verpflichtet als der Wahrheit.Trotzdem sind sogenannte True-Crime-Serien im Moment sehr erfolgreich, was mich fassungslos macht. Der aktuelle Netflix-Erfolg Dahmer – Monster: DieGeschichte von Jeffrey Dahmer zum Beispiel ist lächerlich langweilig undzeigt, was dabei herauskommt, wenn man das Leben einen Krimi schreiben lässt.
Aber zum Glück ist Lob mein andererzweiter Name, deshalb geht es hier jetzt um die fantastische Serie In with theDevil (die auf Deutsch mysteriöserweise Black Bird heißt), dennschließlich gilt: Alle Dinge, die es gibt, gibt es auch in gut. Black Birdberuht auf dem autobiografischen Buch In with the Devil: A fallen Hero, aSerial Killer, and a Dangerous Bargain for Redemption von James Keene undHillel Levin, das 2010 erschien und den Fall des Serienmörders Larry Hallrekonstruiert.
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Hall hat zwischen 1981 und 1994 Mädchenund Frauen verfolgt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet, bis heute ist nichtklar, wie viele genau, Ermittler gehen von ungefähr 50 Todesopfern aus. DerTäter wurde zunächst jedoch in Zusammenhang mit einer Entführung verhaftet. Währendseines Verhörs gestand er dann zwei Morde, kam in den Knast und zog kurz daraufsein Geständnis wieder zurück. Hall legte Berufung ein und seine Chancen,freizukommen, standen gut. Das FBI aber war inzwischen sicher, dass Hallmehrere Frauen ermordet hatte – es fehlten allerdings die Leichen.
Deshalbentschied sich die Behörde für eine ungewöhnliche Methode: Beamte überredetenden Gefangenen James Keene, der eine zehnjährige Haftstrafe wegen Drogen-und Waffenbesitz verbüßte, sich in dasselbe Hochsicherheitsgefängnis verlegen zulassen, in dem Hall saß, sich mit ihm anzufreunden, um Verwertbares aus demMann herauszuholen. Sollte Keene das schaffen, würde er sofort entlassen.Dieser Keene war smart, gutaussehend, charismatisch – Hall das genaueGegenteil: fett und hässlich und unterdurchschnittlich intelligent. Am Ende kamKeene frei, und Hall sitzt bis heute in einem Hochsicherheitsgefängnis, aus demer nie wieder herauskommen wird. Der Plan des FBI ging auf.
Das ist natürlich klassischerTrue-Crime-Stoff, aber zum Glück für uns Zuschauer bekam ihn der SchriftstellerDennis Lehane in die Finger. Er ist der Showrunner von Black Bird, zuvorhatte er unter anderem als Drehbuchautor für The Wire und BoardwalkEmpire geschrieben. Lehane interessiert sich vor allem für die Beziehungzwischen Keene und Hall, manche Szenen sind deshalb eher Kammerspiel alsThriller. Taron Egerton ist darin Keene. Der Schauspieler hat für seineDarstellung von Elton John in dem Film Rocketman vor zwei Jahren einenGolden Globe gewonnen und gibt in Black Bird nun ein manipulativesArschloch, dem man dennoch alles Glück der Welt wünscht.
Die Sensation der Serie ist aber PaulWalter Hauser als Hall. Selten hat man einer Figur zugeschaut, die weniger Liebenswürdigesan sich hatte, für die man nur Ekel und Abscheu empfinden kann. Sobald man Hauserals Hall sieht, fühlt man sich unwohl. Und das ist auch deshalb erstaunlich,weil in Black Bird nur Keenes Straftaten gezeigt werden. KeineEntführung kommt vor, kein Mord. Man sieht Hall niemals ein Verbrechen begehen –man weiß als Zuschauer im Prinzip genauso viel wie Keene. Und je mehr dieserherausbekommt, desto größer werden seine und unsere Gewissheit.
Vielleicht hat sich Lehane für eine Adaptiondieses Stoffs entschieden, weil die Suche nach der Wahrheit darin fastunmöglich erscheint. Denn obwohl sich alle sicher sind, dass Hall dieVerbrechen begangen hat, die ihn vorgeworfen werden, fehlen doch die Beweisedafür. Also bleiben Zweifel, und die sind es, die Black Bird zu einergroßartigen Serie machen – neben den Drehbüchern, einer makellosen Inszenierungund den Schauspielern. Ray Liotta, der vor Kurzem gestorben ist, ist hier ineiner seiner letzten Rollen zu sehen: Er spielt Keenes todkranken Vater, einenabgehalfterten, korrupten Ex-Polizisten, der daran zerbricht, seinen Sohn nichtmehr schützen zu können.
Sabine Rückert hat übrigens einenausgezeichneten Film- und Seriengeschmack. Mit Black Bird wäre siebestimmt auch einverstanden, wenn die Geschichte frei erfunden wäre.
Die sechs Folgen von "BlackBird" sind auf AppleTV+ abrufbar.
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